Glaarkshouse

Camping und Russland. „The Real Thing“ eben.

Wenn man so will, campieren wir seit mehr als zwei Jahren täglich. Ich weiß nicht, ob uns das zu Camping-Spezialisten macht, aber ich schätze mal wir können es mit einem Durchschnitts-Camper, der im Jahr summa summarum drei Wochen auf einem Campingplatz verbringt durchaus aufnehmen. Genauer gesagt: Wir haben wohl unser Soll für die nächsten 30 Jahre Campingurlaub erfüllt. Ziemlich genau sogar.

Allerdings: Unsere Erfahrung mit den umwerfenden Stilblüten des Campingwettrüstens im italienischen oder griechischen Campingplatzidyll hält sich in Grenzen. Ein bisschen was haben wir davon zwar schon gesehen – in CAVALLINO und NEOS MARMARAS jeweils zur Vorsaison – aber richtig eingetaucht sind wir damals wohl nicht. Den Erstgenannten brauchten wir aufgrund der Bügelmöglichkeit für Jen’s Hochzeitskleid, den Zweiten als Zieladresse für den Versand einer Temperatursicherung. Aber das nur so am Rande.

Mein absoluter Favorit aus Cavallino: der Mobilfunkmasten-große Satellitenschüsselstandfuß für den optimalen TV-Empfang auf Campingplätzen, auf welchen die schattenspendenden Bäume den Genuss von Germany’s Next Top Model doch ein bisschen trüben könnten. Oder verrauschen. Wohlgemerkt: Könnten! Unsicherheiten werden nicht in Kauf genommen. Versteh ich. Bei der Fußball-WM letztes Jahr hätte ich für einen solchen Standfuß wahrscheinlich getötet. Selbst schuld, müssen wir auch genau dann in Indien sein. So haben wir das halt anders gelöst. Mit Public Viewing in Pubs und so. Nachts um drei. Deutschland ist trotzdem Weltmeister geworden und wir haben uns die Frustration erspart, kurz vor dem Anpfiff zu merken, dass eine europäische Satellitenschüssel in Asien keinen Pfifferling wert ist – man merkt, ich habe mich kurz vor der WM zu diesem Thema dann doch ein bisschen schlau gemacht.

Aber jetzt sind wir in Russland, an der Wolga, um genau zu sein. Keine WM in Sicht. Freunde haben uns erzählt, dass der Russe an sich ein Campingfanatiker ist. Aha. Nun gut. Wir brauchten ein Wochenende – das erste am Baikalsee – um zu verstehen was damit gemeint ist: am Samstag und Sonntag müssen die russischen Städte leer sein. Alle sind beim Camping. Alle! Groß, klein, jung, alt. Aber the real thing! Nix da mit Wohnwagen oder Wohnmobil. Ein Zelt muss es sein! … ein Unimog mit Wohnkabine – ts ts ts … für Weicheier!
Dass diese Zelte alle möglichen Formen und Farben haben ist klar, aber dass es auch Nischenzelte gibt ist neu. Zumindest für mich. Schlafzelt. Der Standard. Essenszelt. Ok! Wenn es richtig kalt ist oder die Mücken einen auffressen. Aufbewahrungszelt. Na gut, wenn man Platz hat! Toilettenzelt! Cool! Und so richtig praktisch: weil es so viele Camper gibt wird auch der Platz für diesen doch sehr privaten Moment knapp – zudem die Suche nach einem freien Plätzchen im Wald an dieses Kinder-Kästchen-Hüpfspiel erinnert, bei dem man möglichst schnell vom Start bis zum Ende durchhüpfen muss ohne auf die Linien oder die Häufchen zu treten. Ach so, und für die ganz Harten unter den Harten werden all diese Themenbereiche statt durch ein Zelt einfach mit einer simplen Plastikplane abgesteckt. The real thing eben!

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Naja, und zum real thing gehört unbedingt auch ein Boot. Und auch dabei gibt es allerlei Unterschiede. Der Standard: ein Schlauchboot. Aber auch das kann man upgraden, zum Beispiel mit einem 200 PS Außenboardmotor. Und dann wird gefischt. Mitten auf dem See. Stundenlang. Die Männer. Während der Rest der Familie die Zelt- beziehungsweise Planenstadt bewacht oder Feuerholz sucht. Allerdings – und das haben uns äußerst liebenswerte und zurückhaltende Nachbarn am Kotokel See vorgemacht – kann man auch Holzschlagen mit Stil und Würde tun. In einen grünen Outdoor-Anzug gehüllt – Kapuze für den Mann, tailliert und Schlaghose für die Frau – und mit einer Motorsäge bewaffnet. … als mir Tatjana die Motorsäge zum Kleinmachen des von mir eigenhändig angeschleppten Baumstammes anbietet lehne ich dankend ab. Zu groß ist mein Respekt vor diesen Dingern! Ihre Süßigkeiten haben wir aber schon genascht. Das sind die real thing Camper. Zumindest nennen wir sie so.

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Und für die gibt es in Russland mehr als ausreichend „Spielfeld.“ Im Osten Russlands ist die Natur fast unberührt. Laub- und Nadelwälder wechseln sich ab. Endlose Weiten, die sanft von größeren oder kleineren Flüssen durchzogen werden. Immer wieder kreuzt man einen See, denkt kurz nach über ein erfrischendes Bad. Die Weite, die Freiheit, die Natur ist mächtig, fast übermächtig. Erst vor wenigen Jahren wurde das letzte Stück Straße auf den Weg in den fernen Osten geteert. Heute, wenn man vom Highway abbiegt, spürt man sich immer noch auf der alten sibirischen Realität: der Schotterpiste. Camping geht hier überall. Platz genug. Fisch genug. Holz genug. Der real thing Camper lässt sich Raum. Und muss man sich doch näher kommen – weil der Platz am See sehr speziell, doch auch limitiert ist – dann ist er zurückhaltend freundlich, gastfreundlich.

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Aber es gibt auch das Publikum in Feierlaune unter den russischen Campern. Man erkennt sie daran, dass sie schon betrunken mit lauter Musik an einem Freitagabend vorfahren. Vorzugsweise nach Einbruch der Dunkelheit. Bis dann das Zelt aufgebaut ist (oder man sich der Einfachheit halber doch für den Schlaf im Auto entscheidet), steht der ältere Teil der Bevölkerung schon wieder auf und freut sich auf einen weiteren gemütlichen Tag in der endlosen Natur Sibiriens. Dieser kann beim Anblick volltrunkener Teenager, die vor dem Mittagessen schon komatös aber äußerst friedlich auf der Luftmatratze vegetieren leider ein bisschen beeinträchtigt werden. Aber auch das gehört wohl dazu. Genauso wie dass das Wochenende vorüber geht und die Natur wieder sich selbst überlassen wird. Und den real thing Campern …

Egal ob wir nun auch real thing Camper sind oder nicht – neulich beim Joggen entlang des Sees sind wir zweimal einem sibirischen Wolf begegnet. Er hatte Angst vor uns, wir hatten großen Respekt vor ihm. Jetzt fehlt uns nur noch ein Bär. Mal schauen, wie dann die Angst verteilt ist!

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